Merlin der Wilde

[194] An Karl Mayer


Du sendest, Freund, mir Lieder

Voll frischer Waldeslust,

Du regtest gerne wieder

Auch mir die Dichterbrust.

Du zeigst an schatt'ger Halde

Mir den beschilften See,

Du lockest aus dem Walde

Zum Bad ein scheues Reh.


Ob einem alten Buche

Bring ich die Stunden hin,

Doch fürchte nicht, ich suche

Mir trockne Blüten drin!

Durch seine Zeilen windet

Ein grüner Pfad sich weit

Ins Feld hinaus und schwindet

In Waldeseinsamkeit.


Da sitzt Merlin der Wilde

Am See auf moos'gem Stein

Und starrt nach seinem Bilde[194]

Im dunkeln Widerschein.

Er sieht, wie er gealtet

Im trüben Weltgewühl;

Hier in der Wildnis waltet

Ihm neuer Kraft Gefühl.


Vom Grün, das um ihn tauet,

Ist ihm der Blick gestärkt,

Daß er Vergangnes schauet

Und Künftiges ermerkt.

Der Wald in nächt'ger Stunde

Hat um sein Ohr gerauscht,

Daß es in seinem Grunde

Den Geist der Welt erlauscht.


Das Wild, das um ihn weilet,

Dem stillen Gaste zahm,

Es schrickt empor, enteilet,

Weil es ein Horn vernahm.

Von raschem Jägertrosse

Wird er hinweggeführt

Fern zu des Königs Schlosse,

Der längst nach ihm gespürt.


»Gesegnet sei der Morgen,

Der dich ins Haus mir bringt,

Den Mann, der, uns verborgen,

Den Tieren Weisheit singt!

Wohl möchten wir erfahren,

Was jene Sprüche wert,

Die dich seit manchen Jahren

Der Waldesschatten lehrt.


Nicht um den Lauf der Sterne

Heb ich zu fragen an,

Am Kleinen prüft ich gerne,

Wie es um dich getan.

Du kommst in dieser Frühe

Mir ein Gerufner her,

Du lösest ohne Mühe,

Wovon das Haupt mir schwer.
[195]

Dort, wo die Linden düstern,

Vernahm ich diese Nacht

Ein Plaudern und ein Flüstern,

Wie wenn die Liebe wacht.

Die Stimmen zu erkunden,

Lauscht ich hinab vom Wall,

Doch wähnt ich sie gefunden,

So schlug die Nachtigall.


Nun frag ich dich, o Meister,

Wer bei den Linden war?

Dir machen deine Geister

Geheimes offenbar,

Dir singt's der Vögel Kehle,

Die Blätter säuseln's dir;

Sprich ohne Scheu, verhehle

Nichts, was du schauest, mir!«


Der König steht umgeben

Von seinem Hofgesind,

Zu Morgen grüßt' ihn eben

Sein rosenblühend Kind.

Merlin, der unerschrocken

Den Kreis gemustert hat,

Nimmt aus der Jungfrau Locken

Ein zartes Lindenblatt.


»Laß mich dies Blatt dir reichen,

Lies, Herr, was es dir sagt!

Wem nicht an solchem Zeichen

Genug, der sei befragt,

Ob er in Königshallen

Je Blätter regnen sah?

Wo Lindenblätter fallen,

Da ist die Linde nah.


Du hast, o Herr, am Kleinen

Mein Wissen heut erprobt,

Mög es dir so erscheinen,

Daß man es billig lobt!

Löst ich aus einem Laube[196]

Dein Rätsel dir so bald,

Viel größre löst, das glaube!

Der dichtbelaubte Wald.«


Der König steht und schweiget,

Die Tochter glüht von Scham.

Der stolze Seher steiget

Hinab, von wo er kam.

Ein Hirsch, den wohl er kennet,

Harrt vor der Brücke sein

Und nimmt ihn auf und rennet

Durch Feld und Strom waldein. –


Versunken lag im Moose

Merlin, doch tönte lang

Aus einer Waldkluft Schoße

Noch seiner Stimme Klang.

Auch dort ist längst nun Friede;

Ich aber zweifle nicht,

Daß, Freund, aus deinem Liede

Merlin der Wilde spricht.


Quelle:
Ludwig Uhland: Werke. Band 1, München 1980, S. 194-197.
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