Nach dem Angelus Silesius

[88] Des Menschen Seele du, vor allem wunderbar,

Du Alles und auch Nichts, Gott, Priester und Altar,

Kein Pünktchen durch dich selbst, doch über alles Maß

Reich in geschenktem Gut, und als die Engel baß;

Denn höher steht dein Ziel, Gott ähnlich sollst du werden;

So, Seele, bist du's schon; denn was zu Glück und Ruhm

In dir verborgen liegt, es ist dein Eigentum,

Ob unentwickelt auch, wie's Keimlein in der Erden

Nicht minder als der Baum, und wie als Million

Nichts andres ist die Eins, bist du ihm gleich, sein Sohn,

So wie dem Tropfen Blut, der aus der Wunde quillt[88]

Ganz ähnlich ist das Rot, das noch die Adern füllt;

Nicht Kletten trägt die Ros', der Dornstrauch keine Reben,

Drum, Seele, stürbest du, Gott müßt den Geist aufgeben.


Ja, alles ist in dir was nur das Weltall beut,

Der Himmel und die Höll', Gericht und Ewigkeit,

Gott ist dein Richter nicht, du mußt dir selbst verzeihn,

Sonst an des Höchsten Thron stehst du in ew'ger Pein;

Er, der dem Suchenden noch nie verlöscht die Spur,

Er hat selbst Satan nicht verdammt nach Zeit und Ort;

Des unergründlich Grab ist seine Ichheit nur:

Wär' er des Himmels Herr, er brennte ewig fort,

Wie Gott im Höllenpfuhl wär selig für und für,

Und, Seele, bist du treu, so steht dies auch bei dir.


Also ist deine Macht auch heute schon dein eigen,

Du kannst, so oft du willst, die Himmelsleiter steigen;

Ort, Raum, sind Worte nur von Trägheit ausgedacht,

Die nicht Bedürfnis in dein Wörterbuch gebracht.

Dein Aug' ist Blitz und Nu, dein Flug bedarf nicht Zeit,

Und im Moment ergreifst du Gott und Ewigkeit;

Allein der Sinne Schrift, die mußt du dunkel nennen,

Da dir das Werkzeug fehlt die Lettern zu erkennen;

Nur Geist'ges faßt der Geist, ihm ist der Leib zu schwer,

Du schmeckst, du fühlst, du riechst, und weißt um gar nichts mehr;

Hat nicht vom Tröpfchen Tau die Eigenschaft zu messen

Jahrtausende der Mensch vergebens sich vermessen?

Drum, plagt dich Irdisches, du hast es selbst bestellt,

Viel näher als dein Kleid ist dir die Geisterwelt!


Faßt's nicht zuweilen dich, als müßtest in der Tat

Du über dich hinaus, das Ganze zu durchdringen,

Wie jener Philosoph um einen Punkt nur bat,

Um dann der Erde Ball aus seiner Bahn zu schwingen?

Fühlst du in Demut so, in Liebesflammen rein,

Dann ist's der Schöpfung Mark, laß dir nicht leide sein![89]

Dann fühlst du dich von Gott als Wesenheit begründet,

Wie Quelle an dem Strand, wo Ozean sich ründet.


So sei denn freudig, Geist, da nichts mag größer sein,

So wirf dich in den Staub, da nichts wie du so klein!

Du Würmchen in dir selbst, doch reich durch Gottes Hort,

So schlummre, schlummre nur, mein Seelchen, schlummre fort!

Was rennst, was mühst du dich zu mehren deine Tat?

Halt nur den Acker rein, dann sprießt von selbst die Saat;

In Ruhe wohnt die Kraft, du mußt nur ruhig sein,

Durch offne Tür und Tor die Gnade lassen ein;

Dann wird aus lockerm Grund dir Myrt' und Balsam steigen,

Er kömmt, er kömmt, dein Lieb, gibt sich der Braut zu eigen,

Mit sich der Krone Glanz, mit sich der Schlösser Pracht,

Um die sie nicht gefreit, an die sie nicht gedacht!


Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 88-90.
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