Verlohrene Jugend

[159] Wohlauf und geh in den vielgrünen Wald,

Da steht der rothe frische Morgen,

Entlade dich der bangen Sorgen,

Und sing' ein Lied, das fröhlich durch die Zweige schallt!

Es blitzt und funkelt Sonnenschein

Wohl in das grüne Gebüsch hinein,

Und munter zwitschern die Vögelein. –


– Ach nein! ich geh nimmer zum vielgrünen Wald,

Das Lied der süßen Nachtigall schallt,

Und Thränen,

Und Sehnen

Bewegt mir die bange, die strebende Brust,

Im Walde, im Walde wohnt mir keine Lust,

Denn Sonnenschein,

Und hüpfende Vögelein,

Sind mir Marter und Pein!
[160]

Einst fand ich den Frühling im grünenden Thal,

Da blühten und dufteten Rosen zumahl,

Durch Waldesgrüne

Erschiene

Im Eichenforst wild

Ein süßes Gebild:

Da blitzte Sonnenschein,

Es sangen Vögelein

Und riefen die Geliebte mein.


Sie ging mit Frühling Hand in Hand,

Die Weste küßten ihr Gewand,

Zu Füßen

Die süßen

Viol und Primeln hingekniet

Indem sie still vorüberzieht,

Da gingen ihr die Töne nach

Da wurden alle Stimmen wach,

Da girrte Nachtigall noch zärtlicher ihr Ach!
[161]

Mich traf ihr wundersüßer Blick:

Woher? wohin du goldnes Glück?

Die Schöne,

Die Töne,

Die rauschenden Bäume,

Wie goldene Träume!

Ist dies noch der Eichengrund?

Grüßt mich dieser rothe Mund?

Bin ich todt, bin ich gesund?


Da schwanden mir die alten Sorgen

Und neue kehrten bei mir ein,

Ich traf die Maid an jedem Morgen

Und schöner grünte stets der Hain.

Lieb' wie süße

Deine Küsse!

Glänzend schönste Zier

Wohne stets bei mir,

Im vielgrünen Walde hier! –
[162]

Ich ging hinaus im Morgenlicht

Da kam die süße Liebe nicht;

Vom Baum hernieder

Schrie Rabe seine heisern Lieder:

Da weint und klagt ich laut,

Doch nimmer kam die Braut, –

Und Morgenschein,

Und Vögelein

Nur Angst und Pein!


Ich suchte sie auf und ab, über Berge, Thälerwärts,

Ich sah manche fremde Ströme fließen,

Aber ach! mein liebend banges Herz

Nimmer fand's die Gegenwart der Süßen;

Einsam blieb de Wald,

Da kam der Winter kalt;

Vöglein,

Sonnenschein

Flohen aus dem Walde mein. –
[163]

Ach! schon viele Sommer stiegen nieder,

Oftmals kam der Zug der Vögel wieder,

Oft hat sich der Wald in Grün gekleid't,

Niemals kam zurück die süße Maid.

Zeit! Zeit.

Warum trägst du so grausamen Neid?


Ach! sie kommt vielleicht auf fremden Wegen

Unbekannter Weis' mir bald entgegen,

Aber Jugend ist von mir gewichen,

Ihre schönen Wangen sind erblichen,

Kömmt sie auch hinab zum Eichengrund

Kenn' ich sie nicht mehr am rothen Mund.

O Leide

Fremd sind wir uns beide!

Keiner kennt den andern

Im Wandern!
[164]

Wer Jüngling ist der wandle munter

Den Wald hinunter,

Wohl mags, daß ihm Treulieb' entgegen ziehet

Dann blühet

Aus allen Knospen Frühling auf ihn ein: –

Doch niemals treff' ich die verlohrne Jugend mein,

Drum ist mir Sonnenschein

Die Nachtigall im Hayn

Nur Quaal und Pein! –

Quelle:
Ludwig Tieck: Gedichte. Teil 2, Heidelberg 1967, S. 159-165.
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