Mister Stopps und der Stier

[122] Mister Stopps hatte auch lange geschlafen, und als er erwachte, stand Bob vor seinem Bett und flüsterte: »Leise, leise, wir müssen rasch das Kasperle retten.«

»Oh«, der gute Mister Stopps war gar flink dabei. Kasperle, was war mit seinem Kasperle geschehen? Er stand auf, Bob packte eins, zwei, drei die Koffer, und Mister Stopps saß zu seiner eigenen Verwunderung plötzlich im Reisewagen. Dabei hatte er eigentlich vier Wochen in Interlaken bleiben wollen. Aber kaum saß er drin, da fiel ihm etwas um den Hals. Das Kasperle war es, das dumme, kleine, unnütze Kasperle. »O Kahs–pärle, uo uarst du?«

Kasperle erzählte seine Abenteuer, und dabei rollte der Wagen weiter und weiter. Einmal hielt er eine halbe Minute, Mister Stopps merkte es kaum, er hörte immer nur zu, was sein Kasperle erzählte: von dem langen, langen Weg, und dem Adler, den Sennen, und daß die Berge gar nicht aus Schlagsahne wären.

»Armes Kahs–pärle, ich uerde nie mehr machen Spaß.«

»Doch«, rief Kasperle, »Spaß ist fein. Wir machen auch Spaß.«

»Uas denn für Spaß?«

»Na, wir reißen doch aus.«

»Aus–reißen? Uas?«

Und da erzählte Kasperle von Angelas Vormund, der Tante und Herrn von Löwenzahn, die alle miteinander in Interlaken angekommen seien. Darum die plötzliche Abreise mitten in der Nacht.[122]

Erst wollte Mister Stopps bitterböse werden, doch Kasperle bat und flehte. Am Ende, als Mister Stopps immer weiter schalt, fing Kasperle bitterlich zu weinen an.

Es klagte und schluchzte, und Mister Stopps merkte wieder einmal, wie schwer es war, einem Kasperle böse zu sein. Darum rief er endlich: »Ich sein uieder gut«, und weg waren die Tränen, wie weggeblasen. Kasperle lachte und lachte, umarmte Mister Stopps, und der steife Herr fing schließlich auch an zu lachen. Das war eine vergnügte Fahrt, hell die Nacht und lind die Luft, Bergbäche rauschten, hoch ragten die weißen Schneeriesen empor, Sterne am Himmel und friedsame Stille ringsum. Florizel spielte und sang, und als es hell wurde, hielten sie vor einem Wirtshaus, ein blaues Rauchwölkchen stieg aus dem Schornstein zum Morgenhimmel empor, und Kasperle jauchzte: »Heio, Frühstück!«

Es gab Frühstück. Die Gäste ruhten sich aus, und weiter ging die Fahrt. Ein See blaute neben der Straße, und Florizel erzählte Kasperle, dies sei der Vierwaldstätter See. Er erzählte von Tell und dem bösen Landvogt Geßler, aber dem Kasperle war der Tell ganz gleichgültig, es dachte nur an die nahe Mittagsrast.

Mittagsrast, Mittagessen, Ausruhezeit – Kasperle schlief wie ein Rätzlein. Mister Stopps schlief auf der grünen Matte noch tiefer als Kasperle. Dieses hörte auf einmal ein dumpfes Brüllen und sah plötzlich einen wilden Stier auf sich zukommen. Einen Augenblick dachte das Kasperle daran, auszureißen, aber da sah es Mister Stopps, und flink rüttelte es ihn wach. Als Mister Stopps den Stier erblickte, fing er an zu schreien. »Ausreißen!« rief Kasperle.

Aber Mister Stopps war viel zu verdattert, um aufzustehen, er brüllte nur. Aus dem Wirtshaus, aus den nächsten Bauernhöfen kamen Leute angerannt. Alle schrien, schwenkten[123] Stöcke und Heugabeln, aber so recht wagte sich keiner an den wütenden Stier heran. Es sah aus, als würde er den Mister Stopps aufspießen, denn er lief geradewegs auf ihn zu. Ja, wenn jetzt das Kasperle nicht gewesen wäre!

Kasperle überlegte rasch: Ich purzelbaume dem Stier auf den Rücken, dann wird er erschrecken. Und bums, saß das Kasperle dem Stier auf dem Rücken und brüllte dazu, wie nur ein Kasperle brüllen kann. Der Stier blieb erschrocken stehen. Das brüllende Ding auf seinem Rücken war ihm unheimlich. Dazu stach ihn Kasperle noch mit einem spitzen Stock, und der Stier wußte wirklich nicht, was er von der ganzen Geschichte denken sollte. Das Nachdenken fällt so einem Stier ohnehin schwer. Ehe er jedoch damit fertig war,[124] hatten ihm die Bauern einen Strick um den Hals geworfen, und er war gefangen. Geschwind purzelbaumte Kasperle vom Stierrücken herunter und genau Mister Stopps auf den Bauch. »Oh!« rief Mister Stopps.

»Aaah!« rief Kasperle und lachte. Mister Stopps weinte vor Rührung und nannte Kasperle seinen Lebensretter.

Florizel, Bob und die Dorfleute lachten auch, nur Angela weinte, und ein paar Mägde lachten über den großen Buben, der gleich heulte.

An diesem Abend reiste die Gesellschaft nicht weiter. Mister Stopps mußte sich ins Bett legen. Die Angst vor dem Stier und Kasperles Sprung auf seinen Bauch waren zuviel gewesen. Er wurde krank. Bob brachte ihm heißen Tee, und Kasperle wollte ihm etwas vorkaspern, aber Mister Stopps rief erschrocken: »Nein, nein!« Er dachte, dann purzelbaumt er mir wieder auf den Bauch. Danke schön!

Da lief Kasperle hinaus und zu Florizel, der vor dem Hause unter einem dicken Nußbaum saß und sang:


»Möcht einer gern ein Maidli frein,

Nennt aber auf der Welt nichts sein

Als Himmel, Luft und Sonnenschein,

Wird dies genug dem Maidli sein?«


»Wer ist denn das?« fragte Kasperle verdutzt.

Aber da kam schon ein feines Singen vom Hause her, und Florizel und Kasperle hörten die Worte und leises Lachen dazu:


»Fehlt einem auch der Sack voll Geld,

Wer für die Schönheit dieser Welt

Hat beide Augen offen,

Der darf aufs Glück wohl hoffen.«[125]


»Tralala«, jauchzte Florizel, Kasperle aber warf die Beine in die Luft, saß wieder einmal auf der Erde, statt auf dem Bänklein und schrie: »Heio, das bin ich! Wer ist aber die Maid?«

Florizel lachte, strich über die Saiten seiner Geige und sang:


»Der Kasper ist ein Dummerlein,

Sonst wüßt er sicher, wen ich mein,

Die schöne Maid heißt Angela,

Trallala, trallala.

Und reist sie durch das Land,

Wird sie der Tom genannt.«


»Fein!« schrie Kasperle. Vom Hause her klang helles Lachen und dann wieder Singen:


»Morgen ist die Angela

Nimmer da, nimmer da,

Nur den Tom mit Locken braun,

Könnt ihr morgen wieder schaun.«


»Reißt sie aus?« fragte Kasperle erschrocken.

»Ich glaube nicht«, gab Florizel zur Antwort. »Aber nun geh ins Bett, kleines Kasperlein.«

Aber das kleine Kasperlein saß da und sah ganz tiefbetrübt aus. Da fragte der Spielmann: »Was fehlt dir? Was hast du denn?«

»Nichts!« stöhnte Kasperle. »Ich mag sie nur nicht heiraten.«

»Wen, Kasperle?«

»Na, die Angela. Wenn ich heirate, dann muß es Marlenchen sein.«[126]

»O du Dummkopf, du brauchst sie doch nicht zu heiraten. Wie kommst du denn da drauf?«

»Aber du hast es doch gesungen.«

»Ich meine einen anderen.« Und Florizel flüsterte dem Kasperle ein Wörtchen zu. Da lachte der Kleine vergnügt und rannte flugs ins Haus. Er hätte sich am liebsten mit Höslein, Strümpfen und Schuhen ins Bett gelegt, aber das erlaubte Bob nicht, und das müde Kasperle mußte sich erst ausziehen lassen. Zuletzt schlief es darüber ein und schlief bis in den hellen Morgen. Siehe, da kam Angela, die nun[127] wirklich Tom war, mit braunen Locken daher. Die Zöpfe hatte sie sich abgeschnitten und die Haare mit Nußblättern gefärbt. »Nun erkennt dich niemand«, sagte Florizel, er war aber doch froh, daß mittags die Fahrt weiterging.

Wohin?

Mister Stopps wußte es selbst nicht. Er ließ den Wagen fahren, wohin der Kutscher wollte, und der dachte: Immer im Tal zu bleiben, ist nicht gut. Meine Pferde können auch einmal bergauf ziehen.

Es kamen schöne Wälder, wundervolle Wiesen, auf denen die herrlichsten Blumen blühten. Bäche rauschten und Wasserfälle stürzten von den Bergen herab. Auf einmal waren die Reisenden oben und sahen einen Wildbach zur anderen Seite ins Tal brausen. »Fein!« sagte Kasperle.

»Geh nicht zu nah heran«, mahnte Mister Stopps. Zu spät! Kasperle lag schon im Bach und sauste talabwärts.

Heidi, hopsassa! ging das schnell! Mister Stopps wäre vor Schreck dem kleinen Kerl beinahe nachgesprungen, doch Bob und Florizel hielten ihn fest.

»Kahs–pärle, mein Kahs–pärle!« jammerte er.

Aber von Kasperle war nichts mehr zu erblicken, das war in einem dunklen Felsenloch verschwunden. Weg war es.

»Der wird wohl tot sein«, meinte der Kutscher.

»Tot? Mein Kasperle tot?« Mister Stopps rang die Hände. »Und zuei Millionen haben es gekostet.«

Ja, es war schon schlimm!

»Wir fahren weiter bis dorthin, wo der Bach ins Wiesental einmündet.«

»Mak snell!« schrie Mister Stopps.

Aber so schnell ging das nicht. Die Fahrstraße machte viele weite Kurven, Kasperle aber kam viel schneller unten an.[128]

Quelle:
-, S. 122-129.
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