Der Frühling

[396] Da kommt er nun wieder

Der Jüngling des Himmels,

Und schüttelt aus seidnen Locken

Goldnen Thau in die Kelche

Der dürstenden Blümchen im Thal;

Die Hügel erwachen!

Es rauschen die Flüsse

Entfesselt vom Eise![396]


Die Lüfte ertönen:

Die Wälder erklingen

Vom Vogelgesang.

Der frömmere Mensch

Blickt betend gen Himmel

Und Freudenthränen tropfen

Ins junge keimende Gras:


Willkommen! Willkommen!

Du lächelnder Lenz,

Gefährte der Engel

Im Bräutigamsschmuck!


Doch ach, ich soll dich nicht sehen,

Du Jüngling des Himmels,

Nicht sehen den blinkenden Goldthau,

Der sanft dir entträufelt;

Nicht hören deiner Flügel Melodie,

Und das Geflüster der Winde,

Die deine glühende Wange kühlen?


Vergib mir's, vergib mir's,

Schaffer des Frühlings,

Wann ich in bebender Rechte

Mein Antlitz berg' und weine!


Schöpfer, zwar hab' ich gesündigt;

War seiner Blumengerüche,

Seiner fröhlichen Farbengemische,

Seiner Winde Säuseln nicht werth;

Nicht werth seiner Gesänge

Und des blüthenbewehten Silberbachs!


Doch sah ich nicht auch

Vom lächelnden Antlitz des Frühlings

Zu dir, seinem Bildner, empor?

Ach Gott, du weißt's,

Oft tropften Thränen auf den Blüthenzweig,

Den ich dankend brach, und ihn

Flüstern ließ an der pochenden Brust;

Oft entküßt' ich dem ersten Veilchen,[397]

Von der Hand des Knaben gepflückt,

Die lichteren Tropfen und sog,

Gottfühlend, seinen Balsam auf;

Hörte preisen

Der steigenden Lerche Lied,

Der Grasmücke Gezwitscher

Aus der blühenden Linde Duft!

Und wie stieg mein Herz,

Wenn am Abend aus dunkelm Gebüsche

Die melodische Nachtigall gluckte!

Auch saß ich oft im Frühlingsgrase

Der fühlenden Gattin zur Seite,

Von goldlockigen Kindern umhüpft;

Da sah und fühlt' ich dich, Schöpfer!

Fühlt' es, daß du die Liebe bist.

Sah im Wiesenblümchen dich!

Im Forellenbache dich!

In der Rosenknospe dich!

Und ach! im schimmernden Blicke der Gattin,

Und auf der Kinder röthlichen Wange

Dich, Freudengeber, dich!

Ich mußte weinen, Vater!

Mein Aug' in hohler Hand bergen

Und weinen, denn ach!

Ich habe gesündigt;

Bin des himmlischen Frühlings Anblick

Und seiner Umarmung nicht werth.

Drum warfst du mich zürnend

In des Felsen Nacht,

Und sprachst: Fühl' es, Berauschter,

Was es heiße, meinen Frühling nicht sehen!

O, ich fühl's, ich fühl's, Erbarmer!

Denn zu Gefühlen der Schönheit und Größe

War dieß Herz immer geöffnet.

Ich fühl's, ich fühl's, was es sei

Deinen Frühling nicht sehn;


Aber tragen deiner Ungnade Last,

Fühlen des Rächerblicks Flamme,[398]

Nicht von der Ruthe des Vaters,

Nein, von der Geißel des Richters zerfleischt,

Liegen im Staube des Kerkers

Von Finsterniß und Fluch gedrückt,

Nicht sehn das Bruderantlitz des Menschen,

Der tröstenden Liebe Blick –

O das ist mehr, du Ewiger, mehr,

Als deinen Frühling nicht sehn!

O lächle mir wieder Gnade,

Erbarmer, Gnade, Gnade!

Laß das Zorngewölk zerfließen,

Das mir dein Antlitz verhüllt!

Und du, mein Erlöser,

Jesus Christus, mein König, mein Gott!

Dessen Opferblut

Auf die Frühlingsblume floß,

Erbarme dich meiner, und bitte für mich!

Laß schreien dein Blut am Throne:

Gnade! Gnade! Gnade!

Dann erheb' ich mein Haupt vom Staube,

Achte nicht mehr der Fesseln Geklirr,

Und des schüchternen Frühlings,

Der mit blässerer Wange

Durch mein Eisengitter schaut.

Hast du mir vergeben, Erlöser, vergeben,

Dann geht mir jenseits des Grabes

Ein schönrer Frühling auf, als der,

Der Gräber bescheint,

Und dunklere Grüfte des Kerkers.

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 396-399.
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