Demuth

[256] Demuth, Braut des Himmels, höre

Heute deinen Lobgesang,

Christenhymnen, Engelchöre

Singen, Göttin, deine Ehre

Unter Himmelsharfenklang!


Engel sind das Bild der Demuth,

Wenn sie vor Jehovah stehn,

Und vor seines Thrones Lichte

Mit bedecktem Angesichte

Ehrfurchtsvoll vorübergehn.


Jene vier und zwanzig Alte

Beugen schweigend ihre Knie.

Unterm Donner neuer Lieder

Legen sie die Krone nieder;

Denn die Demuth lehrt es sie.


In den Höhen, in den Tiefen

Beugt die ganze Schöpfung sich.

Geister in des Himmels Lüften,

Wesen in des Mondes Düften,

Preisen dich, Jehovah, dich![256]


Jesus, aller Welten Erbe,

Er verließ des Vaters Schoß.

Nicht durch Stolz, der Gott entehret,

Und sich gegen ihn empöret;

Nur durch Demuth war er groß.


Satan, einst ein Sohn des Himmels,

Trotzte Gott mit kühner Wuth.

Doch der schwindelnde Rebelle

Sank von seiner Seraphsstelle

In der Hölle Schwefelgluth.


Jeder aufgethürmte Trotzer,

Der im Stolze Satan gleicht,

Ist ein Feind von Gottes Größe,

Er erkennt nicht seine Blöße,

Weil er von der Demuth weicht.


Demuth ist des Mannes Harnisch,

Ist des Weisen Diadem.

Nur die sanften Christenseelen,

Die mit Demuth sich vermählen,

Sind dem Schöpfer angenehm.


Demuth ist der goldne Gürtel,

Der die Töchter Eva's schmückt.

Ohne sie wird jede Schöne

Frommen Seelen zum Gehöhne;

Nur der Demuth Reiz entzückt.


Sei so reich, wie Peru's Töchter,

Häufe Gold, wie Meeressand;

Gleich' den Grazien an Schöne,

Feßle alle Erdensöhne:

Ohne Demuth ist es Tand.


Ach, drum flüstert meine Seele

Diesen Seufzer, Gott, du dir:

Nicht um Güter, die vergehen,

Soll dich meine Seele flehen,

Nur um Demuth fleht sie dir.

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 256-257.
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