46. Der Gottesacker im Vorfrühling

[309] Blätter treibt des Kirchhofs Flieder,

Neigt auf Grüfte junges Laub;

Kirschenblüte gaukelt nieder

Auf der Abgeschiednen Staub.

Bleicher Primeln Keime lüpfen

Sanft das Moos, das sie umgab;

Und des Dorfes Kinder hüpfen

Achtlos auf der Mütter Grab.


Junges Sinngrün drängt sich dichter

An des Jünglings flachen Stein,

Öffnet blauer Blumen Trichter,

Saugt zerfloßnen Reifen ein.

Schlaff gedrückte Halme richten

Sich vom Winterschlaf empor,

Und in naher Waldung Fichten

Flötet laut ein Drosselchor.


Drosseln, singt in leisen Chören!

Amsel, flöt im Trauerhain!

Nur wir Hinterbliebnen hören

Eure Frühlingsmelode'n.[309]

Ach! ihr mahnt an die Genossen,

Die ein früher Tod verklärt;

An die Lenze, die verflossen,

An die Zeit, die nimmer kehrt!


Flötet nur gelaßne Klage,

Hemmt der Trauertöne Lauf;

Denn sie nahm von dunkler Tage

Letzter Stuf' ihr Engel auf.

Kies und dunkle Schollen warfen

Wir auf den versenkten Sarg,

Als, begrüßt von Himmelsharfen,

Sich ihr Geist in Licht uns barg.


In des Geisterreiches Stille

Tobt kein Sturm der Leidenschaft,

Und des Guten reiner Wille

Lohnt sich durch erhöhte Kraft;

Seelen, fremd im öden Thale

Der umschränkten Wirklichkeit,

Fanden froh die Ideale

Seliger Vollkommenheit.


Ihre Schwächen sind vergessen,

Groll und Zwietracht sind versöhnt,

Wo die Reue mit Cypressen

Der Gekrönten Stätte krönt.

Aus des niedern Neides Schranke

Zu des Friedens Höh' entrückt,

Ritzt sie nie der Bosheit Ranke,

Die des Edeln Pfad umstrickt.


Kühler Rasen überschleiert

Sorgsam der Verwesung Spur;

Auf des Moders Halle feiert

Frühlingsfeste die Natur;

Und die Thräne der Empfindung,

Wenn ihr Grabgeläut' verklingt,

Schmückt die Kette der Verbindung,

Die ins Geisterreich sich schlingt.
[310]

Auf den Gräbern unsrer Väter

Sprießt des Erdrauchs Purpurstrauß,

Ein entwölkter lautrer Äther

Überwölkt ihr enges Haus;

Auf vermorschter Särge Reste,

Auf zerbröckeltes Gebein,

Wallt durch weiße Blütenäste

Goldner Frühlingsmorgenschein.


Selbst wo rasenlos und mürbe

Sich ein neuer Hügel hebt,

Wo man den, der heute stürbe,

An die Reihe hin begräbt,

Wird der Grund sich bald behalmen;

Wo jetzt Wermutstengel stehn,

Hebt die Hoffnung Siegespalmen

Für das große Wiedersehn.


Drückt euch dicht, ihr Epheuzweige,

An der Dulder stilles Grab!

Schlaffe Trauerweide, neige

Dein Gelocke tief herab!

Flattert drüber, Hängebirken,

Dämpft den Tag umher durch Laub,

Und, Natur, mit leisem Wirken

Wandl' in Blumen ihren Staub!

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 41, Stuttgart [o.J.], S. 309-311.
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