Demosthenes mit der einfeltigen witfrauen

[234] Im lieben ton Caspar Singers.


22. juli 1547.


1.

Zu Athena ein witfrau saß,

die erbar, keusch und züchtig was,

doch ser einfeltig über maß;

als sie einmal

zwen gest het ausgesundert;

Als die nun wolten über felt

reisen durch gebirg, wüst und welt,

gaben sie der witwen das gelt,

golt an der zal

zu bhalten auf fünfhundert

Zu iren treuen henden frei,

das sie ir keim solt geben,

es wer dan der ander darbei;

so wurs beschloßen eben.

als es ein halbes jar anstunt,

da kam gar runt

der ein trügner darneben.


2.

Stellt sich traurig und klaget got,

sprach: »frau, mein gsell ist leider tot,

gebt die fünfhundert gulden rot[235]

mir in mein hant,

die ir uns bhielt selbander.«

Die frau gar ser einfeltig war,

on recht gab im die gulden dar.

nach dem über ein viertel jar

kam auch zu lant

aus den schelken der ander;

Fordert sie für gericht zur stunt

und wolt das gelt auch hane.

sie sich nicht verantworten kunt

niemant tet ir beistane.

das erbarmet Demosthenem

oratorem,

nam sich der witfrau ane.


3.

Fieng an und den gast selber fragt,

wie die sach stünd, er selber sagt:

»sie hat uns bhalten mit dem pakt:

gar keinem solt

sies on den andern geben.«

Demosthenes der sprach: »jüngling,

so sint beschloßen dise ding:

ge hin und deinen gsellen bring,

so wirt das gelt

euch zugestellet eben.«

Ein gleich urteil gab das gericht

und kunt kein beßres finnen;

mit schanden zog ab der böswicht

und kunt gar nichts gewinnen.

wer noch mit leuten handlen wöl,

der selbig söl

anfang und ent besinnen.

Quelle:
Hans Sachs: Dichtungen. Erster Theil: Geistliche und weltliche Lieder, Leipzig 1870, S. 234-236.
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