Antwort der Nonne

[239] 1773.


Nimm alles, was ich habe, mit!

Nimm, Tochter, meinen Segen!

Dein Heiland leite jeden Schritt

Auf allen deinen Wegen!


Hier warst in stillem Frieden du

Von Gottes Arm beschirmet;

Nun eilest du dem Meere zu,

Wo wild das Laster stürmet.


Bald wirst du Trug auf Thronen sehn,

Und Frevler an Altären;

Wirst Waisen vor Palästen flehn,

Und Reiche spotten hören.


Da schämt man seines Gottes sich,

Schilt Aberglauben alles;

Verrottet wider Unschuld sich,

Und freut sich ihres Falles.


O meine Tochter, denke mein!

Du wirst es auch erleben;

Ein Schwarm verbuhlter Schmeichelein

Wird summend dich umschweben.


Dich wird des Jünglings frecher Ton

Marien beigesellen,

Um sichrer vom erträumten Thron

Durch Schande dich zu fällen.


Ach fleuch! Ist deine Seele dir

Und dein Erlöser teuer!

Die Larve, Tochter, glaub es mir,

Verhüllt ein Ungeheuer.[240]


Daß nicht am Thron der Majestät

Die Stunden dich verklagen,

Die wir, in brünstigem Gebet,

Vor Jesu Kreuze lagen!


Daß keine deiner Thränen sich

Zum Schwefelguß entflamme!

Daß kein verflogner Seufzer dich

Mit Donnerhall verdamme!


O bleib an stiller Tugend reich,

Die mehr als alles lohnet!

Sei deiner frommen Mutter gleich,

Die nun im Himmel wohnet!


Ich werde diese Hütte bald,

Auf Gottes Wink, verlassen;

Und sie in glänzender Gestalt

An Seinem Thron umfassen.


Mach dich in jeder Stunde hier

Von Erdenschlacken reiner!

Und unter Freuden warten wir

Mit Siegespalmen deiner.


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50, Stuttgart [o.J.], S. 239-241.
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