Tarpeja

[88] Am Brunnen überflutet im Dämmerlicht

Der volle Krug und die Mägde merken's nicht,

Denn Nina plaudert: »Freundinnen, wißt ihr wohl,

Daß eine sitzt im Gestein am Kapitol?


Mein Schatz, der Beppo, hat sie unlängst gesehn

Vor ihrem runden Silberspiegel stehn,

Die sich zu Haupt das güldene Krönlein hub –

Mein Schatz, der Beppo, da er nach Münzen grub.


Er schlüpfte durch einen schmalen Felsengang,

Er tappte sich einen finstern Pfad entlang –

Sie glomm in Höllenlicht! Er rief: ›Wie schön!‹

Die Treppe brach mit donnerndem Getön.


Sie war des römischen Kastellanes Kind

Und sie verriet die Burg und das Burggesind!

Mit Fingerdeut bedang sich die schlaue Maid

Des Feindes Helmgekrön und Schildgeschmeid!


Die Krönlein all und die Stein' und goldnen Ring'

Beäugelt' sie, die in Feindes Lager ging!

Sie öffnet' ihm ein Tor mit sünd'gem Mut

Und sah des Vaters Haupt, es schwamm in Blut.


Doch da am Feinde sie die Löhnung sucht',

Ward sie mit Hohn erdrückt und mit Schildeswucht,

Sie stürzte, von ihrem eigenen Hort entseelt,

Erstickt vom Lohne, den sie selbst gewählt.


Dann grub die Zeit sie tief und tiefer ein,

Sie sank hinunter, hinab ins Felsgestein,

Hinab, hinunter viel hundert Klafter tief

Mit ihrem gleißenden Hort, darin sie schlief.


Da sitzt die arme Seele nun in Pein

Und putzt, die eitle, sich mutterseelenallein –

Tarpeja, gib heraus der Kettlein drei!

Wir tragen's den Knaben zu Lust in Lüften frei!
[89]

Tarpeja, gleite durch den Felsenspalt

Drei Kettlein und drei goldene Ringlein bald!

Tarpeja lieb! Wir sind zufrieden, gibst

Du nur, was du verächtlich beiseite schiebst.


Der Beppo sagt: ›Weil du begingst Verrat,

Bist du verdammt für deine Missetat!

Behüt mich Gott! In Ewigkeit verdammt!

Weil dir nach rotem Gold das Herz geflammt.


Man hört es oft‹ – so sagt er – ›wie du lachst,

Wann du dich schön vor deinem Spiegel machst!

Man hört es oft‹ – so sagt er – ›wie du weinst,

Weil nicht du kommst in den schönen Himmel einst!‹


Tarpeja lieb, entsage der bösen Lust!

Tarpeja, gib die Kettlein um Hals und Brust!

Wir beten, Arge, für dich den Rosenkranz,

Du steigst empor, empor in den Himmelsglanz!«


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 88-90.
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