Germania an ihre Kinder / Eine Ode

[25] 1

Die des Maines Regionen,

Die der Elbe heitre Aun,

Die der Donau Strand bewohnen,

Die das Odertal bebaun,

Aus des Rheines Laubensitzen,

Von dem duftgen Mittelmeer,

Von der Riesenberge Spitzen,

Von der Ost und Nordsee her!


Chor

Horchet! – Durch die Nacht, ihr Brüder,

Welch ein Donnerruf hernieder?

Stehst du auf, Germania?

Ist der Tag der Rache da?
[25]

2

Deutsche, mutger Völkerreigen,

Meine Söhne, die, geküßt,

In den Schoß mir kletternd steigen,

Die mein Mutterarm umschließt,

Meines Busens Schutz und Schirmer,

Unbesiegtes Marsenblut,

Enkel der Kohortenstürmer,

Römerüberwinderbrut!


Chor

Zu den Waffen! Zu den Waffen!

Was die Hände blindlings raffen!

Mit der Keule, mit dem Stab,

Strömt ins Tal der Schlacht hinab!


3

Wie der Schnee aus Felsenrissen:

Wie, auf ewger Alpen Höhn,

Unter Frühlings heißen Küssen,

Siedend auf die Gletscher gehn:

Katarakten stürzen nieder,

Wald und Fels folgt ihrer Bahn,

Das Gebirg hallt donnernd wider,

Fluren sind ein Ozean!


Chor

So verlaßt, voran der Kaiser,

Eure Hütten, eure Häuser;

Schäumt, ein uferloses Meer,

Über diese Franken her!


4

Alle Plätze, Trift' und Stätten,

Färbt mit ihren Knochen weiß;

Welchen Rab und Fuchs verschmähten,

Gebet ihn den Fischen preis;

Dämmt den Rhein mit ihren Leichen;

Laßt, gestäuft von ihrem Bein,[26]

Schäumend um die Pfalz ihn weichen,

Und ihn dann die Grenze sein!


Chor

Eine Lustjagd, wie wenn Schützen

Auf die Spur dem Wolfe sitzen!

Schlagt ihn tot! Das Weltgericht

Fragt euch nach den Gründen nicht!


5

Nicht die Flur ists, die zertreten,

Unter ihren Rossen sinkt,

Nicht der Mond, der, in den Städten,

Aus den öden Fenstern blinkt,

Nicht das Weib, das, mit Gewimmer,

Ihrem Todeskuß erliegt,

Und zum Lohn, beim Morgenschimmer,

Auf den Schutt der Vorstadt fliegt!


Chor

Euren Schlachtraub laßt euch schenken!

Wenige, die sein gedenken.

Höhrem, als der Erde Gut,

Schwillt die Seele, flammt das Blut!


6

Gott und seine Stellvertreter,

Und dein Nam, o Vaterland,

Freiheit, Stolz der bessern Väter,

Sprache, du, dein Zauberband,

Wissenschaft, du himmelferne,

Die dem deutschen Genius winkt,

Und der Pfad ins Reich der Sterne,

Welchen still sein Fittich schwingt!


Chor

Eine Pyramide bauen

Laßt uns, in des Himmels Auen,

Krönen mit dem Gipfelstein:

Oder unser Grabmal sein!

Quelle:
Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, Band 1, München 1977, S. 25-27.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Gedichte; Die Familie Schroffenstein; Amphitryon
Erzählungen, Prosa, Gedichte und Briefe (Band II)
Sämtliche Werke und Briefe in 4 Bänden: Band 3: Erzählungen / Anekdoten / Gedichte / Schriften
Sämtliche Werke und Briefe in 4 Bänden: Band 3: Erzählungen / Anekdoten / Gedichte / Schriften
Sämtliche Erzählungen. Anekdoten. Gedichte. Schriften (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch)

Buchempfehlung

Aristophanes

Die Wolken. (Nephelai)

Die Wolken. (Nephelai)

Aristophanes hielt die Wolken für sein gelungenstes Werk und war entsprechend enttäuscht als sie bei den Dionysien des Jahres 423 v. Chr. nur den dritten Platz belegten. Ein Spottstück auf das damals neumodische, vermeintliche Wissen derer, die »die schlechtere Sache zur besseren« machen.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon