Lied der Sonne

[185] Aus den braunen Schollen

Springt die Saat empor,

Grüne Knospen trollen

Tausendfach hervor.


Und es ruft die Sonne:

Fort den blassen Schein!

Wieder will ich Wonne,

Glut und Leben sein!


Wieder selig zittern

Auf dem blauen Meer

Oder zu Gewittern

Führen das Wolkenheer!


Durch Millionen Röhren

Ziehn der Erde Saft,

Daß man leis kann hören

Seine Wanderschaft!


In den Frühlingsregen

Sieben Farben streun

Und auf Weg und Stegen

Meinen goldnen Schein!
[185]

Ruhn am Gletscherhange,

Wo der Adler minnt,

Auf der Menschenwange,

Wo die Träne rinnt!


Dringen in der Herzen

Kalte Finsternis,

Blenden alle Schmerzen

Aus dem tiefsten Riß!


Hängt – ich bin die Sonnen! –

Vor das Kerkertor,

Was ihr habt gesponnen

Winterlang, hervor!


O ihr Gramspelunken,

Sendet an den Tag,

Was in euch versunken

Leben, weben mag!


Alle finstern Hütten

Sollen Mann und Maus

Auf die Aue schütten,

An mein Licht heraus!


Auf den grünen Plätzen

Wimmle es herum,

Wende seine Fetzen

Vor mir um und um,


Daß durch jeden Schaden

Leuchten ich und dann

Mit der Liebe goldnem Faden

Ihn verweben kann!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 185-186.
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