Erhebung und Verlangen

[428] Ein Fragment.


1764, Juni.


»Sieh auf!« so sprach's, als ich schon halb besät

Mit Todtenstaub hinlag, vorm fernen Donner[428]

Mich tiefer grub und zitternd Ketten küßte,

Von Thränen, Blut und Schweiß durchnagt.

Kaum als mich der nächste Donner rief,

Hob sich mein halbes Aug', doch schnell

Sah's Gott. »Die Fessel weg! auf! komm

Von hier, wo man nichts denkt, nichts fühlt!«

So sprach Apoll, und weiß beglänzet sah

Ich Tempe's Musentänze, schwang den neuen,

Den güldnen Hut – und hörte Kant! und wagte

Mit heller Zung' ein neues Lied!

Und irrte seitwärts Baco nach! Doch kaum

(Da mich schon Hunger hundertklauig faßte)

Entfloh ich – ach, ein neuer Sklav'! Ersticke

Mich nicht, Tyrann! Wie girrt mein Lied,

Dies, das umsonst Apollo's Ohr bestürmt!

O, fänd' es ihn, den für mein Herz und Fehler

Und Glück und Geist die Vorsicht schuf! – –


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 428-429.
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