Madera

[65] Nach dem Spanischen.


Und zum Schlusse dieses Festes

Kosten wir ein Glas Madera,

Süß und traurig: zum Gedächtniß

Aller unglücksel'gen Liebe.


Robert Machin, Anna d'Arfet,

Er ein edler Britenjüngling,

Sie die Tochter stolzer Eltern,

Beide liebten sich, doch traurig.


Hingeworfen ins Gefängniß

Von des Mädchens stolzen Eltern,

Schmachtete der edle Machin;

Doch sein Herz blieb unverändert.


Und des jungen Mannes Freunde

Rüsten ihm ein Schiff am Ufer,

Führen Robert aus dem Kerker,

Ihm die Braut in seine Arme.


Willig folget ihm die treue

Anna d'Arfet in die Wellen.

Liebe Wellen, rauschet glücklich!

Fahret wohl, geliebte Beide!
[66]

Hin nach Frankreichs holdem Ufer

Steuern sie mit Macht und Kräften;

Doch die Küste schwindet traurig,

Traurig seufzen alle Winde.


Dreizehn lange Tag' und Nächte

Schweben sie auf offnem Meere,

Ohne Weg' und ohne Rettung;

Rette sie, geliebte Liebe!


Da ging ihnen auf der Freude,

Auf der Hoffnung Morgenröthe;

Sieh, ein nahes schönes Eiland,

Namlos – jetzo heißt's Madera.


Neue Vögel, neue Bäume,

Schöne Thäler, holde Hügel

Locken freundlich sie zur Küste,

Fliegen freundlich um ihr Segel.


»Ach, es ist der Sitz der Liebe,«

Spricht das freudetrunkne Mädchen,

»Mitten unter wilden Wellen

Uns vom Himmel zubereitet!


Ferne von Europa's Ufer,

Von dem unglücksel'gen Ufer,

Eine der glücksel'gen Inseln

Aus den alten Fabelzeiten.«


Und sie steigen aus zum Lande,

Grüßend die geliebte Küste.

Die krystallne Wasserwoge

Kommt und spielt um ihre Füße.


Wilde Thiere kommen schmeichelnd,

Huldigend dem Königspaare;

Tausend Nachtigallen singen

Ihnen Lobgesang der Liebe.


Und sie finden ein verborgnes

Schönes Thal, von dichten Bäumen

Rings umschattet, wie ein Tempel,

Wie ein Paradies der Liebe.
[67]

»Hier, Geliebter,« spricht das Mädchen,

»In dem Tempel laß uns wohnen!

Unter diesem heil'gen Baume

Laß uns liebvereinet sterben!«


Und ein böses Schicksal hörte

Den schuldlosen Wunsch der Schönen;

Wüthend kam ein harter Sturmwind

Und riß los das Schiff vom Ufer,


Riß es in die wilden Wellen,

Stieß es an Marokko's Küste;

Alle armen Christenseelen

Wurden da der Mohren Sklaven.


Leidend sah das weiche Mädchen

Ihrer treuen Freunde Schicksal,

Sah allein sich auf der Insel,

Sah den Vielgeliebten traurig.


»Unter diesem heil'gen Baume

Will ich ruhn, des Lebens müde!«

Schlang um ihn die festen Arme

Und verschied am dritten Tage.


Ihr und sich erbaut der müde

Robert nun fortan ein Grabmal

Unter dem geliebten Baume

Und verschied am fünften Tage.


Eine Tafel auf dem Grabe

Nannte ihrer Beider Namen,

Sprach, erzählend die Geschichte,

Sprach mit flehnden Worten also:


»Wenn einst dieses schöne Eiland

Je ein Christenpilgrim findet,

O, so weih' er unserm Grabe

Eine Thrän' und einen Tempel!«


Als darauf nach manchen Jahren

Don Gonsalvo und Morales

Wiederfanden diese Insel

Und auf ihr das Grab der Liebe,
[68]

Weihten sie dem treuen Paare

Ein Gebet und einen Tempel;

Jesustempel heißt das Grabmal,

Und der Hafen heißt Machino.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 65-69.
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