Die Verhängnisse

[201] Ein Chorgesang.


Die Verhängnisse weben und weben

Unermüdet der Sterblichen Schicksal.

Aus reichem Rocken zieht

Wählend Klotho den vielgefärbeten Faden,

Dem Einen dunkel, dem Andern hell,

Rastlos immer. Lachesis weitet und hebt

Jetzt hoch empor, jetzt senkt sie tief ihn nieder,

Bis, weggewandt den Blick,

Unerbittlich Atropos schneidet.


In der Menschen langen Gedanken

Schwebt der Faden und ziehet sie vorwärts;

Tief aus der Wünsche Quell

Steigdt jugendlich auf ein Traumgebilde des Lebens,

Dem Einen Irre, dem Andern Wink

Hilfreicher Götter! Günstige Winde jetzt,[201]

Jetzt Meeressturm, jetzt Meeresstille bringen

Zuletzt das matte Schiff

In den längst ersehneten Hafen.


Mir nicht Töchter der Nacht! Töchter des Lichts,

Du mit dem Königsstabe gerüstet,

Sternenglänzende Zuversicht,

Und Du, rosenbekränzte Mutter der Liebe,

Und, die Palm' in der Hand, unsterbliche Hoffnung, Du!

Steigt herab aus jenen seligen Gärten

In Euer Heiligthum, des Redlichen Brust!

Günstig webend aus Eurem Knäul

Den nie zu hoch erhobnen, festen,

Im Gewirr sich glänzend neu aufschwingenden,

Die Zukunft weitenden Faden.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 201-202.
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