Der Gott der Jugend

[195] Gehn dir im Dämmerlichte,

Wenn in der Sommernacht

Für selige Gesichte

Dein liebend Auge wacht,

Noch oft der Freunde Manen

Und, wie der Sterne Chor,

Die Geister der Titanen

Des Altertums empor,


Wird da, wo sich im Schönen

Das Göttliche verhüllt,

Noch oft das tiefe Sehnen

Der Liebe dir gestillt,

Belohnt des Herzens Mühen

Der Ruhe Vorgefühl,

Und tönt von Melodien

Der Seele Saitenspiel,


So such im stillsten Tale

Den blütenreichsten Hain,

Und gieß aus goldner Schale

Den frohen Opferwein!

Noch lächelt unveraltet

Des Herzens Frühling dir,

Der Gott der Jugend waltet

Noch über dir und mir.


Wie unter Tiburs Bäumen,

Wenn da der Dichter saß,[196]

Und unter Götterträumen

Der Jahre Flucht vergaß,

Wenn ihn die Ulme kühlte,

Und wenn sie stolz und froh

Um Silberblüten spielte,

Die Flut des Anio,


Und wie um Platons Hallen,

Wenn durch der Haine Grün,

Begrüßt von Nachtigallen,

Der Stern der Liebe schien,

Wenn alle Lüfte schliefen,

Und, sanft bewegt vom Schwan,

Cephissus durch Oliven

Und Myrtensträuche rann,


So schön ists noch hienieden!

Auch unser Herz erfuhr

Das Leben und den Frieden

Der freundlichen Natur;

Noch blüht des Himmels Schöne,

Noch mischen brüderlich

In unsers Herzens Töne

Des Frühlings Laute sich.


Drum such im stillsten Tale

Den düftereichsten Hain,

Und gieß aus goldner Schale

Den frohen Opferwein,

Noch lächelt unveraltet

Das Bild der Erde dir,

Der Gott der Jugend waltet

Noch über dir und mir.

Quelle:
Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 1, Stuttgart 1946, S. 195-197.
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