|
[137] 1.
Voller Wunder, voller Kunst,
Voller Weisheit, voller Kraft,
Voller Hulde, Gnad und Gunst,
Voller Labsal, Trost und Saft,
Voller Wunder, sag ich noch,
Ist der keuschen Liebe Joch.
2.
Die sich nach dem Angesicht
Niemals hiebevor gekannt,
Auch sonst im geringsten nicht
Mit Gedanken zugewandt,
Derer Herzen, derer Hand
Knüpft Gott in ein Liebesband.
3.
Dieser Vater zeucht sein Kind,
Jener seins dagegen auf,[137]
Beide treibt ihr sonder Wind,
Ihre sondre Bahn und Lauf.
Aber wenn die Zeit nun dar,
Wirds ein wohlgeratnes Paar.
4.
Hier wächst ein geschickter Sohn,
Dort ein edle Tochter zu,
Eines ist des andern Kron,
Eines ist des andern Ruh,
Eines ist des andern Licht,
Wissens aber beide nicht.
5.
Bis solang es dem beliebt,
Der die Welt im Schoße hält,
Und zur rechten Stunde gibt
Jedem, der ihm wohlgefällt;
Da erscheint im Werk und Tat
Der so tief verborgne Rat.
6.
Da wählt Ahasverus Blick
Ihm die stille Esther aus,
Den Tobias führt das Glück
In der frommen Sara Haus,
Davids bald gewandter Will
Holt die klug Abigail.
7.
Jakob fleucht vor Esaus Schwert
Und trifft seine Rahel an,
Joseph dient auf fremder Erd
Und wird Asnath Herr und Mann,
Mose spricht bei Jethro ein,
Da wird die Zipora sein.
8.
Jeder findet, jeder nimmt,
Was der Höchst ihm ausersehn,[138]
Was im Himmel ist bestimmt,
Pflegt auf Erden zu geschehn,
Und was denn nun so geschicht,
Das ist sehr wohl ausgericht.
9.
Öfters denkt man dies und dies
Hätte können besser sein,
Aber wie die Finsternis
Nicht erreicht der Sonnen Schein,
Also geht auch Menschensinn
Hinter Gottes Weisheit hin.
10.
Laßt zusammen, was Gott fügt,
Der weiß, wies am besten sei,
Unser Denken fehlt und trügt,
Sein Gedank ist mangelfrei.
Gottes Werk hat festen Fuß,
Wann sonst alles fallen muß.
11.
Siehe frommen Kindern zu,
Die im heilgen Stande stehn,
Wie so wohl Gott ihnen tu,
Wie so schön er lasse gehn
Alle Taten ihrer Händ
Auf ein gutes selges End.
12.
Ihrer Tugend werter Ruhm
Steht in steter voller Blüt,
Wann sonst aller Liebe Blum,
Als ein Schatten, sich verzieht;
Und wann aufhört alle Treu,
Ist doch ihre Treue neu.
13.
Ihre Lieb ist immer frisch
Und verjüngt sich fort und fort,[139]
Liebe zieret ihren Tisch
Und verzuckert alle Wort;
Liebe gibt dem Herzen Rast
In der Müh- und Sorgenlast.
14.
Gehts nicht allzeit wie es soll,
Ist doch diese Liebe still,
Hält sich in dem Kreuze wohl,
Denkt, es sei des Herren Will,
Und versichert sich mit Freud
Einer künftig bessern Zeit.
15.
Unterdessen geht und fleußt
Gottes reicher Segenbach,
Speist die Leiber, tränkt den Geist,
Stärkt des Hauses Grund und Dach,
Und was klein, gering und bloß,
Macht er mächtig, viel und groß.
16.
Endlich wenn nun ganz vollbracht,
Was Gott hier in dieser Welt
Frommen Kindern zugedacht,
Nimmt er sie ins Himmelszelt
Und drückt sie mit großer Lust
Selbst an seinen Mund und Brust.
17.
Nun so bleibt ja voller Gunst,
Voller Labsal, Trost und Saft,
Voller Wunder, voller Kunst,
Voller Weisheit, voller Kraft,
Voller Wunder, sag ich noch,
Bleibt der keuschen Liebe Joch.
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
|
Buchempfehlung
Die 1897 entstandene Komödie ließ Arthur Schnitzler 1900 in einer auf 200 Exemplare begrenzten Privatauflage drucken, das öffentliche Erscheinen hielt er für vorläufig ausgeschlossen. Und in der Tat verursachte die Uraufführung, die 1920 auf Drängen von Max Reinhardt im Berliner Kleinen Schauspielhaus stattfand, den größten Theaterskandal des 20. Jahrhunderts. Es kam zu öffentlichen Krawallen und zum Prozess gegen die Schauspieler. Schnitzler untersagte weitere Aufführungen und erst nach dem Tode seines Sohnes und Erben Heinrich kam das Stück 1982 wieder auf die Bühne. Der Reigen besteht aus zehn aneinander gereihten Dialogen zwischen einer Frau und einem Mann, die jeweils mit ihrer sexuellen Vereinigung schließen. Für den nächsten Dialog wird ein Partner ausgetauscht indem die verbleibende Figur der neuen die Hand reicht. So entsteht ein Reigen durch die gesamte Gesellschaft, der sich schließt als die letzte Figur mit der ersten in Kontakt tritt.
62 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro