Der 143. Psalm
Herr, höre, was mein Mund spricht

[151] 1.

Herr, höre, was mein Mund

Aus innerm Herzensgrund

Ohn alle Falschheit spricht,

Wend, Herr, dein Angesicht,

Vernimm meine Bitte!


2.

Ich bitte nicht um Gut,

Das auf der Welt beruht,

Auch endlich mit der Welt

Bricht und zu Boden fällt

Und mag gar nicht retten.


3.

Der Schatz, den ich begehr,

Ist deine Gnad, o Herr,

Die Gnade, die dein Sohn,

Mein Heil und Gnadenthron,

Mir sterbend erworben.


4.

Du bist rein und gerecht,

Ich bin ein böser Knecht,

Ich bin in Sünden tot,

Du bist der fromme Gott,

Der Sünde vergibet.


5.

Laß deine Frömmigkeit

Sein meinen Trost und Freud,

Laß über meine Schuld

Dein edle Lieb und Huld

Sich reichlich ergießen.


6.

Betrachte, wer ich bin,

Im Hui fahr ich dahin,[152]

Zerbrechlich wie ein Glas,

Vergänglich wie ein Gras,

Ein Wind kann mich fällen.


7.

Willst du nichts sehen an

Als was ein Mensch getan,

So wird kein Menschenkind

Von wegen seiner Sünd

Im Himmel bestehen.


8.

Sieh an, wie Jesus Christ

Für mich gegeben ist,

Der hat, was ich nicht kann,

Erfüllt und gnug getan

Im Leben und im Leiden.


9.

Du liebest Reu und Schmerz,

Schau her, hier ist mein Herz,

Das seine Sünd erkennt

Und wie im Feuer brennt

Vor Angst, Leid und Sorgen.


10.

Ich lechze wie ein Land,

Dem deine milde Hand

Den Regen lang entzeucht,

Bis Saft und Kraft entweicht

Und alles verdorret.


11.

Gleich wie auch auf der Heid

Ein Hirsch begehrlich schreit

Nach frischem Wasserquell,

So ruf ich laut und hell

Nach dir, o mein Leben.


12.

Erquicke mein Gebein,

Geuß Trost und Labsal ein[153]

Und sprich mir freundlich zu,

Daß meine Seele ruh

Im Schoß deiner Liebe.


13.

Gib mir getrosten Mut,

Wenn meiner Sünden Flut

Aufsteiget in die Höh,

Ersäuf all Angst und Weh

Im Meer deiner Gnaden.


14.

Treib weg den bösen Feind,

Der mich zu stürzen meint,

Du bist mein Hirt, und ich

Will bleiben ewiglich

Ein Schaf deiner Weide.


15.

So lang auf dieser Erd

Ich Atem holen werd,

O Herr, so will ich dein

Und deines Willens sein

Gehorsamer Diener.


16.

Ich will dir dankbar sein,

Doch ist mein Können klein,

Allein in deiner Kraft,

Die Tun und Wollen schafft,

Steht all mein Vermögen.


17.

Drum sende deinen Geist,

Der deinen Kindern weist

Den Weg, der dir gefällt;

Wer den bewahrt und hält,

Wird nimmermehr fehlen.


18.

Ich richte mich nach dir,

Du sollst mir gehen für.[154]

Du sollst mir schließen auf

Die Bahn im Tugendlauf,

Ich will treulich folgen.


19.

Und wenn des Himmels Pfort

Ich werd ergreifen dort,

So will im Engelheer

Ich ewig deiner Ehr

In Freuden lobsingen.

Quelle:
Paul Gerhardt: Dichtungen und Schriften, München 1957, S. 151-155.
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