Zechlied

[72] Ich will einst, bei Ja und Nein!

Vor dem Zapfen sterben.

Alles, meinen Wein nur nicht,

Lass' ich frohen Erben.

Nach der letzten Ölung soll

Hefen noch mich färben.

Dann zertrümmre mein Pokal

In zehntausend Scherben!


Jedermann hat von Natur

Seine sondre Weise.

Mir gelinget jedes Werk

Nur nach Trank und Speise.

Speis' und Trank erhalten mich

In dem rechten Gleise.

Wer gut schmiert, der fährt auch gut.

Auf der Lebensreise.


Ich bin gar ein armer Wicht,

Bin die feigste Memme,

Halten Durst und Hungerqual

Mich in Angst und Klemme.

Schon ein Knäbchen schüttelt mich,

Was ich auch mich stemme.

Einem Riesen halt' ich Stand,

Wann ich zech' und schlemme.


Ächter Wein ist ächtes Öl

Zur Verstandeslampe;

Gibt der Seele Kraft und Schwung

Bis zum Sternenkampe.

Witz und Weisheit dunsten auf

Aus gefüllter Wampe.

Baß glückt Harfenspiel und Sang,

Wann ich brav schlampampe.


Nüchtern bin ich immerdar

Nur ein Harfenstümper.

Mir erlahmen Hand und Griff,

Welken Haupt und Wimper.

Wann der Wein in Himmelsklang

Wandelt mein Geklimper,

Sind Homer und Ossian

Gegen mich nur Stümper.
[72]

Nimmer hat durch meinen Mund

Hoher Geist gesungen,

Bis ich meinen lieben Bauch

Weidlich vollgeschlungen.

Wann mein Kapitolium

Bacchus Kraft erschwungen,

Sing' und red' ich wundersam

Gar in fremden Zungen.


D'rum will ich, bei Ja und Nein!

Vor dem Zapfen sterben.

Nach der letzten Ölung soll

Hefen noch mich färben.

Engelchöre weihen dann

Mich zum Nektarerben:

»Diesen Trinker gnade Gott!

Lass' ihn nicht verderben!«


Quelle:
Bürgers Gedichte in zwei Teilen. Teil 1: Gedichte 1789. Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart 21914, S. 72-73.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe 1789)
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)
Gedichte: Ausgabe 1789

Buchempfehlung

Tschechow, Anton Pawlowitsch

Drei Schwestern. (Tri Sestry)

Drei Schwestern. (Tri Sestry)

Das 1900 entstandene Schauspiel zeichnet das Leben der drei Schwestern Olga, Mascha und Irina nach, die nach dem Tode des Vaters gemeinsam mit ihrem Bruder Andrej in der russischen Provinz leben. Natascha, die Frau Andrejs, drängt die Schwestern nach und nach aus dem eigenen Hause.

64 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon