1. Vorgesang

[19] Morgen liebe, was auch nimmer

Noch geliebet hat zuvor!

Was geliebt hat längst und immer,

Lieb' auch morgen nach wie vor!


Unter frohen Melodieen

Ist der junge Lenz erwacht.

Seht, wie Stirn und Wang' ihm glühen,

Wie sein helles Auge lacht!

Über Saat und Kräuterrasen,

Hain und Garten schwebet er.

Sanfte Schmeichellüftchen blasen

Wohlgerüche vor ihm her.

Segenvolle Wolken streuen

Warme Tropfen auf die Flur,

Labsal, Nahrung und Gedeihen

Jedem Kinde der Natur.


Morgen liebe, was auch nimmer

Noch geliebet hat zuvor!

Was geliebt hat längst und immer,

Lieb' auch morgen nach wie vor!


Lieb' und Gegenliebe paaret

Dieses Gottes Freundlichkeit,

Und sein Süßestes versparet

Jedes Tier auf diese Zeit.

Wann das Laub ihr Nest umschattet,

Paaren alle Vögel sich.

Was da lebet, das begattet

Um die Zeit der Blüte sich.
[19]

Morgen liebe, was auch nimmer

Noch geliebet hat zuvor!

Was geliebt hat längst und immer,

Lieb' auch morgen nach wie vor!


Wonneseliger und röter

Bricht uns dieser Morgen an,

Als der bräutliche, da Äther

Mutter Tellus liebgewann;

Da ihr Schoß vom Himmelsgatten

Floren und den Lenz empfing,

Und des ersten Haines Schatten

Um die Neugebornen hing.


Morgen liebe, was auch nimmer

Noch geliebet hat zuvor!

Was geliebt hat längst und immer,

Lieb' auch morgen nach wie vor!


Als der erste Frühling blühte,

Wand, erzeugt aus Kronus Blut,

Wand sich Venus Aphrodite,

Bei gelinder Wogenflut,

Wunderlieblich aus des grauen

Ozeans geheimen Schoß,

Angestaunet von den blauen

Wasserungeheuern, los.


Morgen liebe, was auch nimmer

Noch geliebet hat zuvor!

Was geliebt hat längst und immer,

Lieb' auch morgen nach wie vor!


Quelle:
Bürgers Gedichte in zwei Teilen. Teil 1: Gedichte 1789. Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart 21914, S. 19-20.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe 1789)
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)
Gedichte: Ausgabe 1789

Buchempfehlung

Naubert, Benedikte

Die Amtmannin von Hohenweiler

Die Amtmannin von Hohenweiler

Diese Blätter, welche ich unter den geheimen Papieren meiner Frau, Jukunde Haller, gefunden habe, lege ich der Welt vor Augen; nichts davon als die Ueberschriften der Kapitel ist mein Werk, das übrige alles ist aus der Feder meiner Schwiegermutter, der Himmel tröste sie, geflossen. – Wozu doch den Weibern die Kunst zu schreiben nutzen mag? Ihre Thorheiten und die Fehler ihrer Männer zu verewigen? – Ich bedaure meinen seligen Schwiegervater, er mag in guten Händen gewesen seyn! – Mir möchte meine Jukunde mit solchen Dingen kommen. Ein jeder nehme sich das Beste aus diesem Geschreibsel, so wie auch ich gethan habe.

270 Seiten, 13.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon